Kapitel 15 aus
«Wie viel Irrtum braucht der Mensch»
Komplimente für Kleinverbraucher
Trost für Normalverbraucher
Warnung für Grossverbraucher
Wer in Rorschach geboren wurde, ist sich an Verwechslungen bald einmal gewöhnt. Morschach? Ausländer konnten die beiden eben so schönen, aber recht verschieden hoch gelegenen Orte schon früher schlecht unterscheiden. Dies noch zu Zeiten, als eher Geistliche als Touristen Morschach ob dem Vierwaldstättersee besuchten und es den Swiss Holiday Park dort oben noch nicht gab. Rorschach kannten zumindest die Deutschen um den Bodensee, und so war es recht erstaunlich, dass vor allem Schweizer den Ort fast regelmässig mit dem benachbarten Romanshorn verwechselten. Es sollte Jahrzehnte dauern, bis ich herausfand, warum. Es hatte nämlich mit mir zu tun.
Bis in die 1950er Jahre zahlten viele junge Feuerwerker ihr Hobby mit dem erzwungenen Studium von ausgewählten Kapiteln der Medizin oder noch teurer. Sie haben in Sprengstoff-Attentätern eine infame Gilde von Nachfolgern gefunden, welche übrigens von gebrannten Kindern viel besser durchschaut werden als von Psychologen. Das Hobby macht nämlich durchaus Spass! Schon viel früher blieben den Zeitungslesern die regelmässig erscheinenden Meldungen über Unglücksfälle in Erinnerung, weil sie sich meist sehr ähnlich waren und sich oft nur im Ort des Geschehens unterschieden. Der Zufall wollte es nun, dass es damals zwei im übrigen sehr verschiedene Bastler dieser Art recht nahe beieinander in Raum und Zeit erwischte. Mich noch relativ harmlos, und einige andere gleich miteinander und ganz bös. Dennoch, es war die Ursache jahrzehntelanger Verwechslungen, welche die Betroffenen nicht nur den Lustgewinn von Terroristen besser verstehen liessen, sondern auch jenen der Sensationslüsternen.
In Zürich gab es während Jahrzehnten ein Polizeimuseum, das beliebtes Mekka und Geheimtipp für alle wurde, denen der Nervenkitzel von Krimis nicht mehr genug war. Eines Tages musste es aufgehoben werden, weil es dazu ja nicht nur Geld braucht, sondern auch noch Leute, die dafür etwas leisten. Ich bekam einen Anruf, ob ich mich für die Rakete interessiere. Welche Rakete? Ja, Ihre natürlich! Unmöglich, aber es war mir erst nach Minuten möglich, immerhin überhaupt, den Beamten von der Unmöglichkeit zu überzeugen. Wie gross ist denn die Rakete? Etwa einen Meter. Noch unmöglicher! Er wusste es natürlich trotzdem und schon seit Jahrzehnten besser. Hätte er nicht zu guter letzt das Wort Romanshorn fallen lassen, wäre eine der grössten Verwechslungen des Landes wohl nie aufgeklärt worden. Schlagartig wurde es mir klar, dass diese zentral wirkenden Beamten es waren, die sich bei Museumsführungen während rund 40 Jahren mit peinlichstem Unsinn wichtig gemacht hatten und dabei noch staatlich fix besoldet wurden! Jetzt waren mir die unzähligen, völlig unverständlichen, Gespräche und Anfragen von scheinbar normalen Landsleuten endlich klar: die glaubten doch tatsächlich im Ernst, da hätte es sich um mich gehandelt! Ein etwas mehr zart besaiteter Unanständiger oder gar ein Jurist im Lande hätte sich da bestimmt mit einer Million Währungseinheiten für erlittenen seelischen Schaden entschädigen lassen. Ich erinnerte mich dagegen nur achselzuckend an die Zeitungsmeldung des tatsächlichen Ereignisses, wo auch schon so ziemlich alles falsch war. Dabei hatte ich dem Beamten doch als noch nicht Sechzehnjähriger Satz für Satz vom Spitalbett aus ganz genau diktiert.
Haben Sie sich auch schon einmal überlegt, was wohl wäre, wenn ein Zeitzeuge von viel dramatischerem Geschehen vor 3500 Jahren heute plötzlich auftauchen und behaupten würde, bei den Geschichten im Alten Testament sei doch alles ganz anders abgelaufen? Ich wünschte ihm für diesen Fall vor allem meine Engelsgeduld im Umgang mit dem realen Homo Sapiens. Diese brauchte ich auch wieder einmal mit dem Pressearchiv des wohl grössten Zeitungsverlegers im Lande. Auch erst nach Jahren hatte ich nämlich gemerkt, dass mein ständig vom 9.11. auf den 9.1. vorverlegtes Geburtsdatum nicht dem Druckfehlerteufel anzulasten war, sondern archivarisch verbürgt war! Nach mehreren fruchtlosen Interventionen fragte ich einmal im Scherz, ob es vielleicht nicht einfacher wäre, wenn ich den Geburtsschein abändern lasse… So wird offenbar Geschichte geschrieben.
Sternsekunde vom 18.9.2006
Bruno Stanek stellt sein neuestes Buch «Wie viel Irrtum braucht der Mensch» vor.