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Der gefrässige Staat wird nimmer satt

Das Klagen über den ungezügelten Kapitalismus ist populär. Doch Tatsache ist, dass der Trend in die andere Richtung weist. Der Staat wächst ungebremst. Trotz Wahlkampf mag in der Schweiz niemand darüber diskutieren – auch nicht die bürgerliche Seite.

Thomas Fuster, Nzz.ch, 11.09.2023

Wer das Wahlprogramm der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz liest, wähnt sich in einem Land des Turbokapitalismus. Da wird gewarnt vor Privatisierungen und Liberalisierungen, mit denen der Service public aufs Spiel gesetzt werde. Alarmiert zeigt man sich auch ob tiefer Steuern und zahnloser Gesetze, die den Konzernen «skrupellose Geschäfte auf Kosten von Mensch und Umwelt» erlaubten. Beklagt wird ferner, dass die Schweiz zwar eine der weltweit tiefsten Schuldenquoten habe, aber eine «Sparpolitik auf Kosten der Bevölkerung» betreibe.

Willkommen im Semisozialismus

Ähnliche Klagen sind seit Jahren von der Grünen Partei, Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen und Kirchenvertretern zu hören. Sie alle zeichnen das Bild eines Landes, wo den Marktkräften kaum Einhalt geboten wird, wo die Regierenden nur Nachtwächter sind und wo der Schwache, der nicht mithalten kann mit den Regeln dieses ungezügelten Wettbewerbs, keine öffentliche Solidarität erwarten darf. Der Staat, so der Eindruck, hat in diesem Reallabor des Laisser-faire wenig zu melden.

So populär das Lamento sein mag, mit der Realität in der Schweiz hat es wenig zu tun. Wer den Trend der vergangenen Jahrzehnte analysiert, sieht keinen Raubtierkapitalismus heranschleichen. Viel eher zeichnet sich ein Allmachtsstaat ab. Wobei das keine Schweizer Besonderheit ist. Für den Philosophen Peter Sloterdijk lebt man in den westlichen Industriestaaten längst in einer «neofeudalen Gesellschaftsform, die sich als Kapitalismus maskiert, in der Sache jedoch ein Semisozialismus mit Tendenz zum Dreiviertelsozialismus ist».

Dieser Semisozialismus ist real existierend, auch in der Schweiz. Man gibt sich hierzulande gern der Illusion hin, einen schlanken Staat zu unterhalten, aber diese Sicht hält einer Überprüfung nicht stand. Das Problem manifestiert sich auf drei Ebenen: Zu beklagen ist erstens ein ungebremstes Wachstum des öffentlichen Sektors; zweitens das Wildern staatlicher oder staatsnaher Firmen in privatwirtschaftlichen Gefilden; und drittens hohe staatliche Löhne, die privaten Firmen das Anlocken von Arbeitskräften erschweren.

Bei der Vermessung des staatlichen Fussabdrucks ist die Fiskalquote ein wichtiges Mass. Die Quote gibt an, welcher Teil der Wertschöpfung an den Staat abgeliefert werden muss. Sie hat sich in den letzten 60 Jahren in der Schweiz verdoppelt. Werden dabei sämtliche obligatorischen Abgaben mitgezählt, wie dies die Denkfabrik Avenir Suisse unlängst getan hat, zerbröckelt das Image der Musterschülerin. Die Schweiz weist dann eine Quote von 40 Prozent auf und liegt ungefähr auf dem Niveau ihrer Nachbarn Deutschland und Österreich.

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