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Ein moralischer Standard für alle

Sheldon Richman
The Future of Freedom Foundation

Sheldon Richman ist leitender Redakteur des Libertarian Institute und mitwirkender Redakteur bei Antiwar.com.

Libertäre begehen einen selbstzerstörerischen Fehler, wenn sie davon ausgehen, dass sich ihre Prinzipien radikal von denen der meisten anderen Menschen unterscheiden. Stellen Sie sich vor, wie viel einfacher es wäre, andere für die libertäre Position zu gewinnen, wenn wir erkennen würden, dass sie bereits in wesentlichen Punkten mit uns übereinstimmen.

Wovon ich spreche? Ganz einfach: Libertäre glauben, dass die Anwendung von Gewalt falsch ist. Das tut auch die überwältigende Mehrheit der Nicht-Libertären. Auch sie halten es für falsch, Straftaten gegen Personen und Eigentum zu begehen. Ich glaube nicht, dass sie solche Taten nur deshalb nicht begehen, weil sie Konsequenzen wie Vergeltung, Strafverfolgung, Geldstrafen, Gefängnis oder wirtschaftliche Probleme befürchten. Sie unterlassen diese Straftaten, weil sie tief im Inneren spüren, dass es falsch, ungerecht und unangemessen ist, sie zu begehen. Mit anderen Worten: Sie glauben, auch wenn sie es nie aussprechen, dass der Mensch in erster Linie seine eigenen Ziele verfolgen sollte und nicht ausschließlich Mittel zum Zweck für andere Menschen sein dürfen. Sie glauben an die Würde des Einzelnen. Dementsprechend nehmen sie den moralischen Raum um andere herum wahr und respektieren ihn. (Das heißt nicht, dass sie das in aller Konsequenz tun, aber wenn sie es nicht tun, fühlen sie sich zumindest dazu gezwungen, dieses zu rationalisieren.)

Zumindest aus meiner Sicht ist das der Ausgangspunkt der libertären Philosophie. (Ich bin kein berechnender Konsequentialist oder Utilitarist, aber ich bin auch kein regelverachtender Deontologe. Vielmehr fühle ich mich mit dem griechischen Ansatz zur Moral, dem Eudaimonismus, wohl, der, wie Roderick Long schreibt, „bedeutet, dass Tugenden wie Klugheit und Wohlwollen eine Rolle bei der Bestimmung des Gegenstands der Gerechtigkeit spielen, aber auch – durch einen Prozess der gegenseitigen Anpassung –, dass die Gerechtigkeit eine Rolle bei der Bestimmung des Gegenstands von Tugenden wie Klugheit und Wohlwollen spielt“. In dieser Sichtweise ist die Gerechtigkeit oder die Respektierung der Rechte ebenso wie die anderen Tugenden eine konstitutive innere Haltung, mit dem übergeordneten Ziel, mit seinen Handlungen einen positiven Beitrag zur Weiterentwicklung zu leisten und ein gutes Leben zu führen.

Libertäre unterscheiden sich von anderen dadurch, dass sie denselben moralischen Maßstab an das Verhalten aller Menschen anlegen. Andere folgen einem Doppelstandard: Der „Leben-und-Leben-lassen“-Maßstab gilt für „private“ Individuen und gleichzeitig denken sie, dass für alle Re- gierungsmitglieder und Staatsangestellten ein moralischer Maßstab gilt, der dazu im krassen Widerspruch steht. Wir müssen die Menschen nur dazu bringen, dies zu erkennen und alles wird gut.

Okay, ich vereinfache das ein wenig. Aber wenn ich annähernd richtig liege, dann musst du zugeben, dass die Aufgabe des Libertären jetzt viel leichter zu bewältigen ist. Sokrates ging durch die Agora in Athen und wies die Leute darauf hin, dass sie unwissentlich widersprüchliche moralische Positionen vertraten. Indem er ihnen bohrende Fragen stellte, brachte er sie dazu, ihre Ansichten zu korrigieren und zu harmonisieren, bis sie frei von Widersprüchen waren und die moralischste ihrer Ansichten die Oberhand gewann. (Bedeutet dies, dass die Agoraphobie aus der Angst entstand, von einem griechischen Philosophen an einem öffentlichen Ort angesprochen zu werden?) Diese Harmonisierung wird als reflexives Gleichgewicht bezeichnet, obwohl Long die Aktivität, die reflexive Äquilibrierung betont und nicht den Endzustand.

Es bleibt den Libertären also nur, eine Reihe von Gedankenexperimenten durchzuführen, um andere für ihre Position zu gewinnen. Wenn ich zum Beispiel richtigerweise als bewaffneter Räuber wahrgenommen werden würde, wenn ich meine Nachbarn bedrohe, damit sie mir einen Teil ihres Einkommens geben, damit ich die Hungrigen ernähren, die Obdachlosen unterbringen und die Rentner versorgen kann, warum werden dann Regierungsbeamte nicht ebenso als Räuber wahrgenommen? Wenn ich den Menschen keine Vorschriften wie das Gesetz zur bezahlbaren Gesundheitsversorgung aufzwingen darf, warum dürfen es Barack Obama und die Mitglieder des Kongresses tun? Wenn ich dir nicht verbieten darf, Marihuana, Heroin oder Kokain zu konsumieren, warum dürfen es dann DEA-Agenten tun?

Du bist ein menschliches Wesen. Ich bin ein menschliches Wesen. Und auch diese Beamten sind menschliche Wesen. Also müssten wir alle die gleichen Rechte haben. Was du und ich nicht tun dürfen, dürften sie also auch nicht tun. Dieses zu widerlegen, ist nun Aufgabe von denjenigen, die die libertäre Position ablehnen.

Zweifellos wird der Nicht-Libertäre entgegnen, dass die Regierungsvertreter gemäß der Verfassung ordnungsgemäß vom Volk gewählt oder Angestellte der Gewählten sind. Daher dürfen sie tun, was dir und mir verboten ist. Diese Antwort ist unzureichend. Wenn du und ich kein Recht haben, andere zu besteuern und zu regulieren, wie könnten wir dann ein nicht existierendes Recht durch eine Wahl an jemand anderen weitergeben? Offensichtlich können wir das nicht. (Frédéric Bastiat wies in Das Gesetz darauf hin.)

Genau das ist der Kern der libertären Philosophie. Niemand hat das Recht, Menschen nur als Mittel zum Zweck zu behandeln – unabhängig davon, wie ehrenhaft der Zweck auch sein mag. Niemand. Daraus folgt, dass man, wenn man die Kooperation eines Menschen will, Überzeugungsarbeit leisten muss (z. B. durch das Angebot eines für beide Seiten vorteilhaften Austauschs), nicht durch Gewalt. Dieser Grundsatz muss auf alle Menschen anwendbar sein, um sich nicht in Widersprüche zu verwickeln.

Dieses Argument dürfte bei den Verfechtern der Gleichheit auf große Zustimmung stoßen – denn was verkörpert ihr Ideal besser als das libertäre Prinzip, das auf der grundlegenden Gleichheit aller Menschen aufbaut? Ich meine damit nicht die Gleichheit der Ergebnisse, die Gleichheit des Einkommens, die Chancengleichheit, die Gleichheit vor dem Gesetz oder die Gleichheit der Freiheit. Ich meine etwas viel Grundlegenderes: das, was Long als Gleichheit der Autorität bezeichnet. Man findet sie bei John Locke (Zweite Abhandlung über die Regierung, Kapitel 2, Abschnitt 6):

Da alle gleich und unabhängig sind, darf niemand dem Leben, der Gesundheit, der Freiheit oder des Besitzes eines anderen Schaden zufügen … Und da wir alle mit gleichen Fähigkeiten ausgestattet sind und alle an einer Naturgemeinschaft teilhaben, kann es keine Verhältnisse zwischen uns geben, die uns ermächtigen könnten, einander zu zerstören, als wären wir nur zum Nutzen anderer geschaffen worden …

 

„Mit der Ausnahme, einem Übeltäter Gerechtigkeit widerfahren zu lassen“, so Locke weiter, „darf niemand das Leben oder das, was zur Erhaltung des Lebens, der Freiheit, der Gesundheit, der Glieder oder der Güter eines anderen beiträgt, wegnehmen oder beeinträchtigen.“ Long zeigt eine wichtige Implikation dieses Gedankens auf: „Die Locke’sche Gleichheit beinhaltet nicht nur die Gleichheit vor Gesetzgebern, Richtern und Polizei, sondern, was noch viel entscheidender ist, die Gleichheit mit Gesetzgebern, Richtern und Polizei.“ Ein moralischer Standard für alle, keine Ausnahmen, keine Privilegien. Das ist eine treffende Zusammenfassung der libertären Philosophie. Die gute Nachricht ist, dass die meisten Menschen schon mehr als die Hälfte des Weges zu diesem Ziel geschafft haben.

 

(Dieser Artikel stammt aus dem Buch «Voluntarismus».)

Voluntarismus: Aufsätze, Texte und Zitate über die Freiheit

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