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Der widerwillige Anarchist

Joseph Sobran, B.A.

Joe Sobran (1946–2010) erhielt seinen B. A. in Englisch von der Eastern Michigan University und absolvierte ein Studium der Anglistik mit Schwerpunkt Shakespeare. Von 1969 bis 1970 unterrichtete er mit einem Stipendium Englisch und hielt Vorlesungen über Shakespeare. Von 1972 bis 1993 schrieb er für den National Review. Der folgende Abschnitt wurde nachgedruckt und erweitert aus Sobran’s, Dezember 2002, Seiten 3–6.

Meine (erst kürzlich erfolgte) Hinwendung zum philosophischen Anarchismus hat einige meiner konservativen und christlichen Freunde beunruhigt.

In der Tat überrascht es mich, da es meinen eigenen Neigungen zuwiderläuft. Als Kind habe ich einen tiefen Respekt vor Autorität und eine Abscheu vor Chaos entwickelt. In meinem Fall wurde beides durch Existenzängste verschmolzen, nachdem sich meine Eltern scheiden ließen und ich mehrere Jahre lang von einer Wohnung zur anderen zog und oft bei Fremden lebte. Ich sehnte mich nach einer festen Autorität.

Gleichzeitig wurde mir in der öffentlichen Schule der Patriotismus vermittelt, zu dem damals alle Kinder angehalten wurden. Ich wuchs mit dem Gefühl auf, dass, wenn es etwas gab, dem ich vertrauen und auf das ich mich verlassen konnte, es meine Regierung war. Sie war stark und gut, auch wenn ich sonst nicht viel über sie wusste. Die Vorstellung, dass einige Leute – zum Beispiel Kommunisten – die Regierung stürzen wollten, erfüllte mich mit Schrecken.

G.K. Chesterton kritisierte Rudyard Kipling einmal mit seiner üblichen sanften Dreistigkeit für seinen „Mangel an Patriotismus“. Da Kipling dafür bekannt war, das britische Empire zu verherrlichen, hätte dies als eines von Chestertons „Paradoxien“ erscheinen können, aber es war kein solches, außer in dem Sinne, dass es leugnete, was die meisten Leser für offensichtlich und unbestreitbar hielten.

Chesterton, selbst ein „Little Englander“ und Gegner des Imperiums, erklärte, was an Kiplings Ansicht falsch war: „Er bewundert England, aber er liebt es nicht, denn wir bewundern Dinge aus Gründen, aber wir lieben sie ohne Grund. Er bewundert England, weil es stark ist, nicht weil es englisch ist.“ Das impliziert, dass es nichts gäbe, wofür man es lieben könnte, wenn es schwach wäre.

Natürlich hatte Chesterton recht. Du liebst dein Land, wie du deine Mutter liebst – einfach, weil es dein Land ist, nicht wegen seiner Überlegenheit gegenüber anderen, insbesondere wegen der Überlegenheit der Macht.

Das erscheint mir heute selbstverständlich, aber als ich es zum ersten Mal las, hat es mich erschreckt. Schließlich war ich Amerikaner und der amerikanische Patriotismus drückt sich normalerweise in Superlativen aus. Amerika ist das freieste, das mächtigste, das reichste, kurzum das großartigste Land der Welt, mit der großartigsten Regierungsform – der demokratischsten. Vielleicht lieben die armen Finnen oder Peruaner ihre Länder auch, aber weiß der Himmel, warum – sie haben so wenig, worauf sie stolz sein können, so wenig „Gründe“. Amerika ist auch das meist beneidete Land der Welt. Wünschen sich nicht alle Menschen insgeheim, sie wären Amerikaner?

Der Patriotismus, der mir als Junge eingeimpft wurde, war der Patriotismus der Macht. Ich war in dieser Hinsicht ziemlich typisch. Zum einen hatte Amerika noch nie einen Krieg verloren – ich war sogar stolz darauf, dass Amerika die Atombombe entwickelt hatte (zufällig, wie es schien, gerade rechtzeitig, um die Japaner zu vernichten) – und deshalb war der Vietnamkrieg so bitter und frustrierend. Nicht die Toten, sondern die Niederlage! Das Ende der großen Glückssträhne der Geschichte!

Als ich erwachsen wurde, begann mein Patriotismus eine andere Form anzunehmen und es dauerte lange, bis ich erkannte, dass es ein Spannungsverhältnis zum Patriotismus der Macht gab. Ich wurde ein philosophischer Konservativer mit einer starken libertären Ader. Ich glaubte an eine Regierung, aber diese musste „begrenzt“ sein. Auf einige wenige legitime Zwecke beschränkt, wie die Verteidigung im Ausland und die Polizeiarbeit im Inland. Diese und kaum andere Aufgaben akzeptierte ich unter dem Einfluss von Schriftstellern wie Ayn Rand und Henry Hazlitt, deren Bücher ich während meiner Studienzeit gelesen hatte.

Obwohl ich Rands Atheismus nicht mochte (damals war ich zwar irreligiös, aber nicht antireligiös), übte sie einen seltsamen Reiz auf meinen Restkatholizismus aus. Ich hatte genug Aquin gelesen, um auf ihre aristotelischen Mantras zu reagieren. Alles musste sein eigenes Wesen und seine eigenen Grenzen haben, auch der Staat. Die Vorstellung eines Staates, der ständig wächst, keine Grenzen kennt und seine Ansprüche an den Bürger immer weiter erhöht, beleidigte und ängstigte mich. Das konnte nur in Tyrannei enden.

Ich fühlte mich auch stark zu Bill Buckley hingezogen, einem ausgesprochenen Katholiken, der denselben aristotelischen Ton anschlug. Während seines Rennens um das Amt des Bürgermeisters von New York im Jahr 1965 gab er den Wählern ein erhabenes Versprechen: Er bot „die innere Gelassenheit, die sich aus dem Wissen ergibt, dass der Politik rationale Grenzen gesetzt sind.“ Das war vielleicht das sinnloseste Wahlversprechen aller Zeiten, aber meine Stimme hätte er damit gewonnen!

Es war eher dieser aristotelische Sinn für „rationale Grenzen“ als eine bestimmte Doktrin, der mich zum Konservativen machte. Ich freute mich, ihn bei einigen englischen Schriftstellern zu finden, die dem amerikanischen Konservatismus fern standen – Chesterton natürlich, Samuel Johnson, Edmund Burke, George Orwell, C.S. Lewis, Michael Oakeshott.

In der Tat zog ich einen literarischen, kontemplativen Konservatismus dem aktivistischen, mit unmittelbaren politischen Fragen beschäftigten Konservatismus vor. Während der Reagan-Jahre, die ich eigentlich aufregend finden sollte, langweilte ich mich zu Tode mit angebotsorientierter Ökonomie, Unternehmenszonen, „Privatisierung“ von Wohlfahrtsprogrammen und ähnlichen prinzipienlosen Spielereien. Ich konnte nicht erkennen, dass die Konservativen der „Bewegung“ weniger an Prinzipien als an republikanischen Siegen interessiert waren. Soweit ich es gesehen habe, konnte ich nicht begreifen, was es bedeutet.

Dennoch war das Letzte, was ich erwartet hatte, ein Anarchist zu werden. Viele Jahre lang wusste ich nicht einmal, dass es ernsthafte philosophische Anarchisten gab. Ich hatte noch nie von Lysander Spooner oder Murray Rothbard gehört. Wie konnte die Gesellschaft überhaupt ohne Staat überleben?

Jetzt begann ich, der US-Regierung kritisch gegenüberzustehen, wenn auch nicht sonderlich ausgeprägt. Ich erkannte, dass der Wohlfahrtsstaat, vor allem das Erbe des New Deal von Franklin Roosevelt, gegen die Grundsätze der begrenzten Regierungsgewalt verstieß und letztendlich abgeschafft werden musste. Aber ich stimmte mit anderen Konservativen darin überein, dass in der Zwischenzeit die dringende globale Bedrohung durch den Kommunismus gestoppt werden musste. Da ich die „Verteidigung“ als eine der eigentlichen Aufgaben der Regierung ansah, betrachtete ich den Kalten Krieg als eine Notwendigkeit, sozusagen als das Dach über dem Kopf der Freiheit. Wenn die sowjetische Bedrohung jemals aufhören würde (die Aussicht darauf schien gering), könnten wir es uns leisten, den Militärhaushalt zu kürzen und uns wieder der Demontage des Wohlfahrtsstaates zu widmen.

Irgendwo, am Ende des Regenbogens, würde Amerika zu seinen Gründungsprinzipien zurückkehren. Die Bundesregierung würde geschrumpft, es gäbe nur noch wenige Gesetze, die Steuern wären minimal. Das war es, was ich dachte. Zumindest hoffte ich das.

In jenen Jahren las ich eifrig konservative und marktwirtschaftliche Literatur im Bewusstsein, dass ich als eine Art Spätbekehrter die konservative Bewegung einholen würde. Ich ging davon aus, dass andere Konservative die gleichen Bücher bereits gelesen und sich zu Herzen genommen hatten. Sicherlich wollten wir alle das Gleiche! Im Grunde genommen die Erkenntnis, dass es rationale Grenzen für die Politik gibt. Der gute alte Aristoteles. Damals schien der Weg von Aristoteles zu Barry Goldwater nicht weit zu sein.

Wie inzwischen hinlänglich bekannt ist, habe ich als junger Mann für Buckley beim National Review gearbeitet und wurde später Kolumnist bei verschiedenen Zeitungen. Ich fand meine Nische im konservativen Journalismus als Kritiker der Verzerrungen der US-Verfassung durch die Liberals, insbesondere in den Urteilen des Obersten Gerichtshofs zu Abtreibung, Pornografie und „Meinungsfreiheit“.

Allmählich erkannte ich, dass die konservative Anforderung an die vom Liberalism geprägten Rechtsprechung der „lockeren Auslegung“ viel zu eng gefasst war. Nahezu alles, was die Liberals von der Bundesregierung wollten, war verfassungswidrig. Der Schlüssel zu allem, so dachte ich, war der Zehnte Verfassungszusatz, der es der Bundesregierung verbietet, Befugnisse auszuüben, die ihr nicht ausdrücklich in der Verfassung zugewiesen sind. Aber der Zehnte Zusatzartikel lag seit dem New Deal im Koma, als Roosevelts Gerichtshof ihn praktisch außer Kraft setzte.

Dies bedeutete, dass fast alle Bundesgesetze vom New Deal bis zur Great Society und darüber hinaus verfassungswidrig waren. Anstatt die Programme der Liberals stückweise zu bekämpfen, konnten die Konservativen das ganze untergraben, indem sie die wahre (und eigentlich offensichtliche) Bedeutung der Verfassung wiederbelebten. Die Liberals stützten sich auf eine lange Reihe von Machtübernahmen.

Etwa zur Zeit der hart umkämpften (und abgelehnten) Nominierung von Richter Robert Bork für den Obersten Gerichtshof der USA haben die Konservativen viel Energie darauf verwendet, darauf zu bestehen, dass die „ursprüngliche Absicht“ der Verfassung ausschlaggebend sein müsse. Sie wendeten diesen Grundsatz jedoch nur auf einige zweideutige Formulierungen und Passagen an, die sich auf bestimmte brisante Themen des Tages bezogen – zum Beispiel die Todesstrafe. Über den allgemeinen Sinn der Verfassung konnte es meines Erachtens keinerlei Zweifel geben. Der herrschende Grundsatz lautet: Alles, wozu die Bundesregierung nicht befugt ist, ist ihr verboten.

Das allein würde den föderalen Wohlfahrtsstaat und in der Tat fast alle Gesetze, die auf die Liberals zurückgehen, außer Kraft setzen. Aber ich fand es schwierig, die meisten Konservativen davon zu überzeugen. Bork selbst vertrat die Ansicht, dass der Zehnte Verfassungszusatz nicht durchsetzbar sei. Wenn er Recht hatte, dann war die gesamte Verfassung von Anfang an nichtig.

Ich habe nie geglaubt, dass eine Renaissance der Verfassung einfach sein würde, aber ich war der Meinung, dass sie eine unverzichtbare Rolle bei der Untergrabung der Legitimität des Liberalism spielen könnte. Die Konservativen der Bewegung hörten sich meine Argumente höflich, aber ohne große Begeisterung an. Sie hielten die Berufung auf die Verfassung für ziemlich pedantisch und in der Praxis für nutzlos – keine große Hilfe im politischen Kampf. Die meisten Amerikaner wussten nicht einmal mehr, was Usurpation bedeutet. Die Konservativen selbst wussten es kaum.

Natürlich hatten sie in einem offensichtlichen Sinne recht. Selbst konservative Gerichte (wenn man sie denn dafür gewinnen könnte) wären nicht mutig genug, das gesamte Erbe des Liberalism auf einmal zu verwerfen. Aber ich war nach wie vor davon überzeugt, dass die konservative Bewegung den Liberalism an seiner verfassungsrechtlichen Wurzel angreifen musste.

In gewisser Weise hatte ich meinen Patriotismus von dem Amerika, wie es damals war, auf das Amerika übertragen, wie es gewesen war, als es noch die Verfassung achtete. Und wann hatte es die Grenze überschritten? Zunächst dachte ich, die große Korruption sei eingetreten, als Franklin Roosevelt die Bundesjustiz unterwanderte; später kam ich zu der Einsicht, dass das entscheidende Ereignis der Bürgerkrieg gewesen war, der das Recht der Staaten, sich von der Union abzuspalten, effektiv zerstört hatte. Aber mit dieser Ansicht war ich unter den Konservativen in der Minderheit, insbesondere beim National Review, wo ich der einzige war, der sie vertrat.

Ich habe schon mehr als genug über meine Karriere bei der Zeitschrift geschrieben, daher möchte ich mich darauf beschränken, zu sagen, dass ich erst gegen Ende meiner mehr als zwei glücklichen Jahrzehnte dort zu erkennen begann, dass wir doch nicht alle dasselbe wollten. Als es passierte, war es, als würde man nach einer langen und ruhigen Ehe erfahren, dass der Ehepartner in eine andere verliebt ist, und zwar schon die ganze Zeit.

Nicht, dass ich betrogen worden wäre. Ich war lediglich blind. Ich habe niemandem außer mir selbst die Schuld zu geben. Die Buckley-Leute und die konservative Bewegung im Allgemeinen haben genauso wenig versucht, mich zu täuschen, wie ich versucht habe, sie zu täuschen. Wir alle nahmen an, wir stünden auf derselben Seite, obwohl wir es nicht taten. Wenn es eine Schuld an diesem Missverständnis gibt, dann ist es meine eigene.

In den späten 1980er Jahren begann ich, mich mit Rothbard-Libertären zu treffen – sie gaben sich selbst das unscheinbare Etikett „Anarcho-Kapitalisten“ – und ich traf Rothbard sogar persönlich. Die Rothbard-Libertären waren ein brillanter, kämpferischer Haufen, voll von herausfordernden Ideen und überraschenden Argumenten. Rothbard selbst verband eine profunde theoretische Intelligenz mit einer tiefen Kenntnis der Geschichte. Sein Hauptwerk, Man, Economy, and State, hatte das uneingeschränkte Lob des normalerweise zurückhaltenden Henry Hazlitt erhalten – im National Review!

Ich kann über Murray nur sagen, was schon so viele andere gesagt haben: Noch nie in meinem Leben bin ich einem so originellen und starken Geist begegnet. Als kleiner, stämmiger New Yorker Jude mit einem explosiven, gackernden Lachen war er immer ein aufregender und fröhlicher Geselle. Er hat Dutzende von dicken Büchern und Hunderte von Artikeln verfasst und weiß der Himmel, wie er die Zeit fand, (auf der alten elektrischen Schreibmaschine, die er bis zum Schluss benutzte) zahllose lange, gehaltvolle, gut durchdachte Briefe an alle möglichen Leute zu schreiben.

Murrays Sicht auf die Politik war schockierend unverblümt: Der Staat war nichts anderes als eine riesige Verbrecherbande. So sehr ich ihm im Allgemeinen zustimmte und so faszinierend ich seine Argumente auch fand, so sehr wehrte ich mich gegen diese Schlussfolgerung. Ich wollte immer noch an eine verfassungsmäßige Regierung glauben.

Murray wollte nichts davon wissen. Er bestand darauf, dass der Konvent von Philadelphia, auf dem die Verfassung ausgearbeitet worden war, nichts anderes als ein „Staatsstreich“ war, der die Macht zentralisierte und die weitaus erträglicheren Regelungen der Artikel der Konföderation zerstörte. Das widersprach allem, was mir beigebracht worden war. Ich hatte noch nie gehört, dass jemand behauptet hätte, die Artikel seien der Verfassung vorzuziehen gewesen! Aber Murray war es egal, was andere dachten – oder was alle dachten. (Für Ayn Rand war er zu radikal.)

Murray und ich teilten die Leidenschaft für Gangsterfilme und einmal meinte er mir gegenüber, dass die Mafia dem Staat vorzuziehen sei, weil sie dadurch überlebe, dass sie Dienstleistungen anbiete, die die Menschen tatsächlich wollten. Ich entgegnete ihm, dass die Mafia sich wie der Staat verhielt, indem sie ihre eigenen „Steuern“ durch Schutzgelderpressungen gegenüber Ladenbesitzern erpresste. Ihr Markt war alles andere als „frei”. Er gab zu, dass ich Recht hatte. Ich war stolz darauf, ihm ein Zugeständnis abgerungen zu haben.

Murray starb vor einigen Jahren, ohne aus mir einen Anarchisten gemacht zu haben. Es blieb seinem brillanten Schüler, Hans-Hermann Hoppe, überlassen, meine Bekehrung zu vollenden. Er argumentierte, dass keine Verfassung den Staat zurückhalten könne. Sobald das Gewaltmonopol des Staates legitimiert sei, würden verfassungsrechtliche Grenzen zu bloßen Fiktionen, über die er sich hinwegsetzen könne; niemand könne die rechtliche Befugnis haben, diese Grenzen durchzusetzen. Der Staat würde selbst mit Gewalt entscheiden, was die Verfassung „bedeutet“ und dabei ständig zu seinen Gunsten entscheiden und seine eigene Macht vergrößern. Das war a priori richtig und die amerikanische Geschichte hat es bestätigt.

Was wäre, wenn die Bundesregierung die Verfassung in grober Weise verletzen würde? Könnten die Staaten aus der Union austreten? Lincoln sagte nein. Die Union war „unauflösbar“, es sei denn, alle Staaten stimmten ihrer Auflösung zu. Praktisch gesehen war das mit dem Bürgerkrieg erledigt. Die Vereinigten Staaten im Plural waren in Wirklichkeit ein einziger riesiger Staat, wie die neue Gewohnheit zeigt, von „ihr“ [den USA] statt von „ihnen“ zu sprechen.

Das Volk ist also verpflichtet, der Regierung zu gehorchen, auch wenn die Regierenden ihren Eid auf die Verfassung brechen. Die Tür zur Flucht ist verschlossen. Lincoln behauptete in der Tat, dass nicht unsere Rechte, sondern der Staat „unveräußerlich“ sei. Und er hat es mit Waffengewalt durchgesetzt. Keine Übertretung der Verfassung kann die ererbte Legitimität der Union beeinträchtigen. Einmal zu bestimmten und begrenzten Bedingungen gegründet, bleibt die US-Regierung für immer, selbst wenn sie sich weigert, sich an diese Bedingungen zu halten.

Wie Hoppe darlegte, ist dies der Fehler bei der Annahme, der Staat könne durch eine Verfassung kontrolliert werden. Einmal gewährt, wird die staatliche Macht natürlich absolut. Gehorsam ist eine Einbahnstraße. „Wir, das Volk“ gründen eine Regierung und legen die Befugnisse fest, die sie über uns ausüben darf; unsere Herrscher schwören vor Gott, dass sie die von uns gesetzten Grenzen respektieren werden; aber wenn sie diese Grenzen mit Füßen treten, bleibt es unsere Pflicht, ihnen zu gehorchen.

Doch selbst nach dem Bürgerkrieg blieben gewisse Skrupel noch eine Zeit lang bestehen. Die Amerikaner waren sich im Prinzip immer noch einig, dass die Bundesregierung nur durch eine Verfassungsänderung neue Befugnisse erhalten konnte. Daher enthielten die Verfassungszusätze der Nachkriegszeit die Formulierung „Der Kongress hat die Befugnis, diese und jene Gesetze zu erlassen“.

Doch zur Zeit des New Deal waren diese Bedenken so gut wie hinfällig. Franklin Roosevelt und sein Oberster Gerichtshof legten die Handelsklausel so weit aus, dass sie praktisch jede Bundesforderung zuließ und den Zehnten Verfassungszusatz so eng, dass er jeder hemmenden Kraft beraubt wurde. Heute sind diese Irrlehren so fest verankert, dass sich der Kongress nur noch selten die Frage stellt, ob ein vorgeschlagenes Gesetz von der Verfassung erlaubt oder verboten ist.

Kurz gesagt, die US-Verfassung ist ein totes Pferd. Sie wurde 1865 tödlich verwundet. Der Leichnam kann nicht wiederbelebt werden. Es fiel mir schwer, dies zuzugeben und auch jetzt noch schmerzt es mich, es zu sagen.

Andere Dinge haben mir geholfen, meine Meinung zu ändern. R.J. Rummel von der Universität von Hawaii hat errechnet, dass die Staaten allein im zwanzigsten Jahrhundert etwa 262 Millionen ihrer eigenen Untertanen ermordet haben. In dieser Zahl sind die zig Millionen Ausländer, die sie im Krieg getötet haben, nicht enthalten. Wie kann man dann von Staaten sprechen, die ihr Volk „schützen“? Kein noch so großes privates Verbrechen hätte einen solchen Tribut fordern können. Was die Kriegsführung anbelangt, so schildert Paul Fussell in seinem Buch Wartime die Schlachten mit einer so entsetzlichen Anschaulichkeit, dass ich, obwohl dies nicht seine Absicht war, zu zweifeln begann, ob irgendein Krieg gerechtfertigt werden kann.

Meine Mitchristen sagten, dass die Autorität des Staates göttlich gegeben sei. Sie beriefen sich auf das Gebot Christi: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“ und auf die Worte des Paulus: „Die Gewalten sind von Gott eingesetzt.“ Aber Christus hat nicht gesagt, welche Dinge – wenn überhaupt – dem Cäsar gehören; seine zweideutigen Worte sind weit davon entfernt, ein Gebot zu sein, dem Cäsar zu geben, was er fordert. Und es ist bemerkenswert, dass Christus seinen Jüngern nie befohlen hat, einen Staat zu gründen oder sich politisch zu betätigen. Sie sollten das Evangelium verkünden und, wenn es abgelehnt wurde, weiterziehen. Er scheint sich den Staat nie als etwas vorgestellt zu haben, das sie auf ihre Seite ziehen könnten oder sollten.

Auf den ersten Blick scheint der heilige Paulus die Autorität des Staates positiver zu beurteilen. Aber er selbst ist wie die anderen Märtyrer dafür gestorben, dass er sich dem Staat widersetzt hat und dafür ehren wir ihn; wobei wir hinzufügen können, dass er auch einmal ein Gefängnisausbrecher war. Offensichtlich ist die Stelle im Römerbrief falsch gelesen worden. Sie wurde wahrscheinlich während der Herrschaft Neros geschrieben, der nicht gerade ein erbaulicher Herrscher war; aber Paulus riet auch den Sklaven, ihren Herren zu gehorchen und niemand legt dies als eine Befürwortung der Sklaverei aus. Er könnte gemeint haben, dass der Staat und die Sklaverei auf absehbare Zeit bestehen bleiben und dass die Christen sie um des Friedens willen aushalten müssen. Niemals sagt er, dass beides für immer da ist.

Der heilige Augustinus betrachtete den Staat argwöhnisch als Strafe für das Sündigen. Er sagte, ein Staat ohne Gerechtigkeit sei nichts anderes als eine Räuberbande im großen Stil, wobei er bezweifelte, dass ein Staat jemals anders sein könnte. Thomas von Aquin vertrat eine wohlwollendere Auffassung und argumentierte, dass der Staat auch dann notwendig sei, wenn der Mensch nie in Ungnade gefallen wäre; er stimmte jedoch mit Augustinus darin überein, dass ein ungerechtes Gesetz überhaupt kein Gesetz ist, eine Lehre, die jeden bekannten Staat stark herabsetzen würde.

Das Wesen des Staates ist sein rechtliches Gewaltmonopol. Aber Gewalt ist unmenschlich; Simone Weil definierte sie mit den Worten, die ich immer wieder zitiere, als „das, was einen Menschen in ein Ding verwandelt – entweder eine Leiche oder einen Sklaven“. Zur Selbstverteidigung oder zur Verteidigung von Unschuldigen mag sie manchmal ein notwendiges Übel sein, aber niemand kann von Rechts wegen das haben, was der Staat für sich beansprucht: ein ausschließliches Privileg, Gewalt anzuwenden.

Es ist durchaus möglich, dass Staaten – organisierte Gewalt – diese Welt immer beherrschen werden und dass wir bestenfalls eine Wahl zwischen Übeln haben werden. Und einige Staaten sind in dieser Hinsicht deutlich schlimmer als andere: Jeder, der bei klarem Verstand ist, würde das Leben in den Vereinigten Staaten dem Leben unter einem Stalin vorziehen. Aber zu sagen, etwas sei unvermeidlich oder weniger belastend als etwas anderes, heißt nicht, dass es gut ist.

Für die meisten Menschen ist Anarchie ein beunruhigendes Wort, das Chaos, Gewalt und Antinomismus suggeriert – Dinge, von denen sie hof- fen, dass der Staat sie kontrollieren oder verhindern kann. Der Begriff Staat stört sie trotz seiner blutigen Geschichte nicht. Dabei ist es der Staat, der wirklich chaotisch ist, denn er bedeutet die Herrschaft der Starken und Durchtriebenen. Sie stellen sich vor, dass die Anarchie natürlich in der Herrschaft von Schlägern enden würde. Aber bloße Schläger können kein plausibles Recht auf Herrschaft geltend machen. Das kann nur der Staat mit seinem Propagandaapparat. Das ist es, was Legitimität bedeutet. Anarchisten brauchen offensichtlich ein verführerischeres Etikett.

„Aber was sollte an die Stelle des Staates treten?“ Die Frage verrät die Unfähigkeit, sich die Gesellschaft ohne den Staat vorzustellen. Dennoch scheint es, dass eine Institution, die innerhalb eines Jahrhunderts über 200.000.000 Menschenleben fordern kann, kaum „ersetzt“ werden muss.

Die Christen und insbesondere die Amerikaner sind in dieser Hinsicht lange Zeit durch ihr Glück in die Irre geführt worden. Seit der Bekehrung Roms wurden die meisten westlichen Herrscher mehr oder weniger durch die christliche Moral gebremst (wenn auch oft genug nicht so, dass man es merken würde) und selbst die Kriegsführung wurde über Jahrhunderte hinweg einigermaßen zivilisiert. Das hat die Annahme hervorgebracht, dass der Staat nicht unbedingt ein Übel ist. Aber wenn diese Moral ihren kulturellen Halt verliert, was derzeit der Fall ist, wird sich diese Verwirrung auflösen. Wir können mehr und mehr damit rechnen, dass der Staat sein wahres Gesicht unverhüllt zeigt.

Für mich ist das alles andere als eine glückliche Schlussfolgerung. Ich vermisse die Gelassenheit, in dem Glauben zu leben, dass ich unter einer guten Regierung lebe, die weise konzipiert ist und wohlwollend handelt. Aber, wie der heilige Paulus sagt, es kommt die Zeit, in der man die Kindereien ablegen muss.

 

(Dieser Artikel stammt aus dem Buch «Voluntarismus».)

Voluntarismus: Aufsätze, Texte und Zitate über die Freiheit

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