Zum Inhalt springen

Abschied vom falschen Gott

(NZZ – FEUILLETON – Mittwoch, 22. Dezember 2021, Seite 31)

Die Säkularisierung ist auch das Ende einer übergriffigen, moralisierenden Kirche. Dabei gewinnt das Christentum selbst

GIUSEPPE GRACIA

Wenn Christentum und Kirche an Popularität einbüssen, bedeutet das nicht, dass die Menschen nichts mehr von Gott wissen wollen. Sie distanzieren sich eher von einer Kirche, deren Politik sie ablehnen und deren Personal sie enttäuscht. Oder sie wehren sich gegen die Idee eines Gottes, der wie ein Polizist im Himmel über uns wacht und alle bestraft, die nicht parieren. Selbst erklärte Atheisten leugnen oft nur einen Gott, den es auch aus christlicher Sicht nicht gibt, den man also zu Recht leugnet: einen Gott als Kinderschreck, der mit der Angst vor der Hölle auf Kundenfang geht und die Menschen infantilisiert, mit einem Machtsystem namens Religion. Oder einen Gott als Mythologie, als kindischer Aberglaube, gerichtet gegen Vernunft und Naturwissenschaft.

Dass es aber keine Unvereinbarkeit zwischen Glaube, Vernunft und Naturwissenschaft gibt, ist Teil der christlichen Theologie – auch wenn dies heute nicht mehr viele Christen wissen. Die Naturwissenschaften handeln vom funktionalen Zusammenhang der Einzelphänomene. Sie entdecken und erforschen Ablaufgesetze der materiellen Welt und schenken der Menschheit damit grosse Fortschritte. Im Vergleich dazu ist Gott keine nach physikalisch-räumlichen Kategorien fixierbare Grösse. Er ist nicht in hunderttausend Kilometern Höhe oder in einer Ferne von Lichtjahren. Die christliche Theologie versteht die Nähe Gottes als eine Nähe nach Seins-Kategorien. Gott ist für den Glaubenden insofern immer da, als der Mensch ohne ihn nicht am Stromaggregat des Seins angeschlossen wäre.

Eine Theologie, die nicht übergriffig wird, belehrt also nicht über Naturgesetze, sondern spricht vom Grund und Sinn der Wirklichkeit als eines Ganzen. Im Vordergrund steht nicht das Quantitative, experimentell Nachweisbare, sondern das Qualitative, Personale. Die «Unermesslichkeit des Herzens», wie der Dichter Pascal sagt.

Es ist nicht anzunehmen, dass es deshalb Kirchenaustrittswellen gibt, weil die Leute davon nichts mehr wissen wollen. Oder weil sie die Kernbotschaften des Christentums ablehnen: Liebe ist stärker als der Tod, jeder Mensch ist von Gott gewollt. Viele dürften im Gegenteil die Erfahrung machen, dass auch ihr Herz letztlich unquantifizierbar und unberechenbar ist, so wie Gedanken oder Träume. Die Erfahrung, dass es im Leben Kräfte gibt, die mit keinem Mikroskop fassbar und dennoch real sind. Nur die materielle Realität kann wissenschaftlich untersucht und unter den Zwang einer bestimmten Methode gestellt werden. Aber schon einen einzelnen Menschen kann man nicht verstehen, wenn man ihn auf Proteine und Moleküle reduziert. Im Gegenteil, es geht einem nur dann etwas von ihm auf, wenn man versucht, sich in einer Art von Sympathie auf ihn einzulassen.

Weiterlesen bei Giuseppe-gracia.com

Schlagwörter:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert