Zum Inhalt springen

Recht und Unrecht des staatlichen Zwangs (Auszüge)

Auberon Herbert

Auberon Herbert (1838-1906) war ein englischer radikaler Individualist, der von den Arbeiten Herbert Spencers beeinflusst wurde. Zusammen mit einer Gruppe anderer klassischer Liberaler des späten Viktorianischen Zeitalters war er in Organisationen wie der Personal Rights and Self-Help Association und der Liberty and Property Defense League aktiv. Er formulierte ein System des „gründlichen“ Individualismus, das er als „Voluntarismus“ bezeichnete.

Jeder Mann und jede Frau sollen frei sein, ihre Fähigkeiten und ihre Energien nach ihren eigenen Vorstellungen für das, was richtig und weise ist, in jede Richtung zu lenken, außer in eine: Sie dürfen ihre Fähigkeiten nicht zu dem Zweck gebrauchen, ihren Nächsten gewaltsam an der gleichen freien Nutzung seiner Fähigkeiten zu hindern. (S. 1).

Kein Mensch kann mit gefesselten Händen ein Handwerk erlernen, vor allem nicht das Handwerk, gut und weise zu leben. (S. 3).

… Selbst wenn du glaubst, du könntest die Menschen weise und gut machen, indem du ihnen die Freiheit des Handelns nimmst, hast du kein Recht, dies zu tun. Wer hat dir den Auftrag gegeben, zu entscheiden, was dein Bruder tun oder nicht tun soll? Wer hat dir die Verantwortung für sein Leben, seine Fähigkeiten und sein Glück übertragen, ebenso wie für dein eigenes? Vielleicht hältst du dich selbst für weiser und denkst, besser urteilen zu können als er; aber das taten auch all jene in alten Zeiten – Könige, Kaiser und Oberhäupter herrschender Kirchen –, die Macht besaßen und nie Skrupel hatten, ihre Mitmenschen mit Hilfe dieser Macht so zu formen und zurechtzustutzen, wie sie es selbst für richtig hielten (S. 5).

Wir sind dabei, Kaiser und Könige und herrschende Kirchen schnell loszuwerden, was die bloße äußere Form betrifft, aber die Seele dieser Männer und dieser Institutionen lebt und atmet weiter in uns (S. 6).

… Ich muss dir antworten, dass deine Mehrheit nicht mehr Rechte über den Körper oder den Geist eines Menschen hat als der von Bajonetten umgebene Kaiser oder die unfehlbare Kirche (S. 6).

Der eine wird die Masse der Menschen im Bereich der Religion regeln wollen, ein anderer in Bildungsangelegenheiten, ein anderer in Fragen der Philosophie, ein anderer in der Kunst, ein anderer im Handel, ein anderer im Bereich der Arbeit, ein anderer im Vertragswesen, ein anderer bei ihren Vergnügungen. Der eine will das Volk in einigen wenigen Dingen regeln und in vielen die Freiheit gewähren; der andere will in wenigen Dingen die Freiheit gewähren und vieles regeln. Es gibt keine Möglichkeit einer dauerhaften menschlichen Übereinkunft in dieser Angelegenheit, wo man einmal aufgehört hat, auf irgendeinem bestimmten Prinzip zu stehen, wo man einmal die Anwendung von Gewalt für bestimmte unbestimmte Bedürfnisse des Augenblicks gebilligt hat (S. 9).

Solange sie dies nicht getan haben, solange sie nicht irgendein Gesetz gefunden haben, nach dem sie den richtigen von dem falschen Gebrauch der Macht unterscheiden können, nach dem sie nicht nur sich selbst, sondern auch die anderen gerecht behandeln können, lassen sie die größte Angelegenheit, die den Menschen betrifft, einfach in der Schwebe; sie sind wie Menschen, die sich ohne Karte und Kompass auf den Weg über die weite See machen und hoffen, dass der Blick des Wassers, das Gesicht des Himmels und die Richtung des Windes ihnen in jedem besonderen Augenblick sagen werden, welchen Kurs sie nehmen sollen (S. 10).

Kein Mensch handelt bewusst und mit klarer Selbstführung, kein Mensch besitzt ein festes Ziel und einen festen Zweck im Leben, bis er die Tatsachen seiner täglichen Existenz unter die Anordnung allgemeiner Prinzipien gebracht hat. Solange er dies nicht getan hat, werden die Tatsachen des Lebens ihn gebrauchen und beherrschen; er wird sie nicht gebrauchen und beherrschen (S. 11).

Aber abgesehen von diesem Einfluss auf den Charakter, den die Freiheit und die staatliche Regelung jeweils ausüben müssen, liegt die Antwort, die jeder Mensch auf die große Frage „Mit welchem Recht üben die Menschen Macht übereinander aus?“ in seiner Seele (S. 13).

Und nun wollen wir die Rechte des Einzelnen etwas näher betrachten. Ich behaupte, dass er von Rechts wegen Herr über sich selbst und seine eigenen Fähigkeiten und Energien ist. Wenn er es nicht ist, wer ist es dann? Nehmen wir an, dass A keine Rechte über sich selbst hat, während B und C, die in der Mehrheit sind, Rechte über ihn haben. Aber wir müssen von einer Gleichheit in diesen Dingen ausgehen und wenn A keine Rechte über sich selbst hat, können auch B und C keine Rechte über sich selbst haben. In was für eine lächerliche Lage geraten wir dann! B und C, die keine Rechte über sich selbst haben, haben absolute Rechte über A; und wir müssten in dieser höchst verkehrten Welt annehmen, dass die Menschen umhergehen und nicht sich selbst besitzen, wie jeder einfältige Mensch natürlich annehmen würde, sondern irgendeinen anderen ihrer Mitmenschen besitzen; und dann vielleicht ihrerseits von einem anderen besessen werden. Betrachte die Sache von einem anderen Gesichtspunkt aus. Du sagst mir, eine Mehrheit habe das Recht, für ihre Mitmenschen zu entscheiden, was sie wollen. Welche Mehrheit? 21 zu 20? 20 zu 5? 20 zu 1? Aber warum überhaupt eine Mehrheit? Was ist an der Zahl, das irgendeine Meinung oder Entscheidung besser oder gültiger machen kann, oder das den Körper und den Geist eines Menschen in die Obhut eines anderen Menschen überführen kann? Fünf Menschen befinden sich in einem Raum. Weil drei Menschen eine Meinung vertreten und zwei eine andere, haben die drei Menschen irgendein moralisches Recht, ihre Meinung den anderen beiden aufzuzwingen? Welche magische Macht kommt über die drei Menschen, dass sie, weil sie einer mehr sind als die zwei anderen, deshalb plötzlich Besitzer des Geistes und des Körpers dieser anderen werden? Solange sie zu zweit waren, blieb wohl jeder Herr seines eigenen Geistes und Körpers; aber von dem Augenblick an, wo ein anderer Mensch, weiß der Himmel, aus welchen Motiven heraus, sich der einen oder der anderen Partei angeschlossen hat, ist diese Partei ohne weiteres von den Seelen und Körpern der anderen Partei besessen geworden. Hat es jemals einen solch entwürdigenden und unhaltbaren Aberglauben gegeben? (S. 14-15)

Wenn die Tatsache, in der Mehrheit zu sein, wenn die Tatsache der größeren Zahl diese außerordentliche Tugend mit sich bringt, besitzt dann eine größere Nation das Recht, durch eine Abstimmung über das Schicksal einer kleineren Nation zu entscheiden? (S. 16)

Du leugnest die Rechte des Einzelnen, über sich selbst zu bestimmen und sich selbst zu führen. Aber du erkennst diese Rechte plötzlich an und übertreibst sie, sobald du den Einzelnen in die Masse geworfen hast, die du die Mehrheit nennst (S. 16).

Ich glaube nicht, dass es möglich ist, eine perfekte moralische Grundlage für die Autorität irgendeiner Regierung zu finden, sei es die Regierung eines Kaisers oder einer Republik (S. 19).

… Ich sehe, dass die Ausübung dieser Energien und Fähigkeiten von der Einhaltung des universellen Gesetzes abhängt, dass kein Mensch einen anderen Menschen mit Gewalt in der Ausübung seiner Fähigkeiten einschränken darf (S. 19).

So wie der Einzelne ein Recht auf Selbsterhaltung hat, und zwar gegenüber dem besonderen Menschen, der ihm Unrecht tut, so hat eine Regierung – die das Individuum in der Masse ist – genau die gleichen Rechte, weder größer noch kleiner, gegenüber der ganzen besonderen Klasse derer, die Gewalt anwenden (S. 20).

Wenn wir vorschlagen, Gewalt gegen den Kapitalisten anzuwenden, weil er seine Arbeiter zwingt, bestimmte Bedingungen zu akzeptieren, verwechseln wir die beiden Bedeutungen, die dem Wort Gewalt zukommen. Wir verwechseln direkte und indirekte Gewalt. Direkter Zwang, von wem auch immer ausgeübt, ist nur ein Überbleibsel jenes barbarischen Zustandes, als Kaiser und herrschende Kirchen die Menschen nach ihren eigenen Vorstellungen benutzten. Indirekter Zwang ist ein Zustand des Lebens, dem wir immer unterworfen waren und immer unterworfen sein werden; er ist untrennbar mit unserer gemeinsamen Existenz in der Welt verbunden. Der reichste und mächtigste Mensch lebt unter indirektem Zwang ebenso wie der ärmste und schwächste … Unheil, das entsteht, wenn man das Vorhandensein von indirektem Zwang zu einem Grund für die Anwendung von direktem Zwang macht (S. 22-23).

Genauso hält derjenige, der mit direkter Gewalt die indirekte Gewalt bekämpft, nur eine Verletzung zurück, indem er anderen eine andere, schwerwiegendere zufügt. Er stellt sowohl die Gutgesinnten als auch die Ungerechtgesinnten auf die Seite der Unterdrückung und verzögert dadurch die Entwicklung jener moralischer Prinzipien auf unbestimmte Zeit, die die Handlungen der Guten und der Bösen ausgleicht, die wir allein die Lösung für jenes Temperament sein kann, das die Menschen dazu bringt, die in ihren Händen ruhende indirekte Macht hart zu gebrauchen (S. 24).

Das Privateigentum und der freie Handel stehen auf genau derselben Grundlage, beide sind wesentliche und nicht voneinander trennbare Teile der Freiheit, beide hängen von Rechten ab, die keine Körperschaft von Menschen, ob sie nun Regierungen oder sonst wie genannt werden, dem Einzelnen rechtmäßig nehmen kann (S. 30).

Wenn ich einem Menschen die Hände fessele und ihm seinen Geldbeutel wegnehme, so fessele ich ganz offensichtlich sowohl seinen Willen als auch seine Handlungen. Wenn ich einem Menschen ein Brot verkaufe, das angeblich nur aus Weizen, in Wirklichkeit aber zum Teil aus Kartoffeln besteht, fessele ich seinen Willen, so dass seine Handlungen gefesselt sind. Mein Betrug ist verdeckte Gewalt (S. 33).

Das Eigentum eines Menschen ist das Ergebnis der Ausübung seiner Fähigkeiten; es ist ein untrennbarer Teil von ihm selbst und seinen Fähigkeiten. Deshalb wird, wann immer sein Eigentum verletzt wird, in seine Fähigkeiten eingegriffen und sein Wille über sich selbst, seine Fähigkeiten, seine Handlungen und sein Eigentum unterdrückt (S. 34).

Es gibt gute Gründe, ihn zu ermahnen, zu überreden oder zu bitten, aber keine, ihn zu zwingen oder ihm ein Übel anzutun, wenn er anders handelt (S. 40).

Aber unsere großen einheitlichen Systeme, durch die der Staat dem Volke zu dienen vorgibt, schließen notwendigerweise Verschiedenheit und Vielfalt aus; und indem sie Verschiedenheit und Vielfalt ausschließen, schließen sie auch die Mittel zur Verbesserung aus. Ich sollte zeigen, wie unwahr der Schrei gegen den Wettbewerb ist. Ich müsste zeigen, dass der Wettbewerb den Menschen einen Nutzen gebracht hat, der zehnmal – ja hundertmal – größer ist als der Schaden, den er angerichtet hat; dass alle Vorteile und Annehmlichkeiten des zivilisierten Lebens aus dem Wettbewerb hervorgegangen sind; und dass die Hoffnungen der Zukunft untrennbar mit den noch besseren Gaben verbunden sind, die aus ihm und nur aus ihm hervorgehen werden. Selbst wenn dies nicht so wäre, selbst wenn der Wettbewerb nicht eine Macht wäre, die aktiv auf eurer Seite kämpft, müsste ich zeigen, dass eure Bemühungen, ihn zu besiegen oder zu umgehen, vergeblich wären. Ich müsste zeigen, dass jeder äußere Schutz, jeder Versuch, das Unterlegene mit Gewalt auf die gleiche Stufe zu stellen wie das Überlegene, ein bloßer Traum ist, geboren aus unserer Unkenntnis der Methoden der Natur (S. 63-64).

Es gibt nichts Gutes im Leben, vom Höchsten bis zum Niedrigsten, das den Menschen nicht zuteil würde, wenn sie einmal die Klarheit des Verstandes erlangen, um die moralischen Grenzen zu erkennen, die sie der Anwendung von Gewalt setzen sollten, wenn sie den loyal standhaften Vorsatz gewinnen, ihre Energien nur innerhalb dieser Grenzen einzusetzen (S. 67).

In der Tat wirst du bei der Untersuchung dieser Angelegenheit feststellen, dass alle Vorstellungen von Recht und Unrecht letztlich von der Antwort abhängen, die du auf meine Frage gibst: „Haben zwanzig Männer – nur weil sie zwanzig sind – ein moralisches Recht, über den Verstand, den Körper und den Besitz von zehn anderen Männern zu verfügen, nur weil sie zehn sind?“ (S. 69).

 

(Dieser Artikel stammt aus dem Buch «Voluntarismus».)

Voluntarismus: Aufsätze, Texte und Zitate über die Freiheit

Schlagwörter:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert