Zum Inhalt springen

Abkommen mit der EU – die Schweiz sollte nicht ihre Gesetzgebung outsourcen

Gastkommentar

Die Schweiz sollte als souveräner Staat ihre Gesetzgebung nicht an die EU delegieren. Die neue Verhandlungsgrundlage spricht von «gemeinsamen Werten» der Schweiz und der EU. Doch die Schweiz ist freiheitlicher, in der EU gilt zunehmend Plan statt Markt.

Beat Kappeler, Nzz.ch, 20.12.2023

Der Bundesrat hat nach langen Sondierungsgesprächen den Entwurf für ein neues Verhandlungsmandat mit der EU verabschiedet.

Im unlängst veröffentlichten Vorschlag des Bundesrates zu einer neuen Verhandlungsrunde mit der EU sind zwei dicke Kröten zu schlucken: zum einem die letztrichterliche Kompetenz des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), zum anderen die Unterordnung der Schweiz unter das EU-Recht bei bisherigen, laufenden und künftigen Regulierungen («dynamic align»).

Die EuGH-Kompetenz findet sich im «Common Understanding», der beidseitigen Verhandlungsgrundlage, schnörkellos in Punkt 8. Ebenso schnörkellos fügt dieser hinzu, dass der EuGH für alle Abkommen zuständig sein soll – also rückwirkend auf Verträge, die anders ausgehandelt worden sind. Ein Schiedsgericht, das Streitigkeiten regeln kann, wird bei hartnäckigen Meinungsunterschieden seinerseits die Meinung des EuGH einholen müssen, dessen Entscheidung dann gilt. Auch dies wurde nahtlos aus dem gescheiterten Rahmenabkommen abgeschrieben.

Rückwirkende Verträge

Die Schweizer Unterhändler sind beim «dynamischen Nachvollzug» ebenfalls eingeknickt – er gilt für alles auf allen Vertragsgebieten, die gegenwärtig bestehen und neu ausgehandelt werden. Vom «autonomen Nachvollzug» der bisherigen Praxis, also von Fall zu Fall, kommt die Schweiz damit zum «automatischen Nachvollzug» aller diesbezüglichen EU-Vorschriften. Dies gilt, wie bei der Zuständigkeit des EuGH, für alle, also auch die bisherigen bilateralen Abkommen. Auch hier kommen somit Nachverhandlungen gewissermassen rückwirkend durch die Hintertür.

Es ist deshalb völlig unbegründet, dass sich nun manche Kommentatoren erleichtert zeigten, dass das alte Freihandelsabkommen nicht zur Disposition stehe, wie im früheren Entwurf eines Rahmenabkommens. Denn es wird durch die rückwirkende dynamische, automatische Anpassung unwesentlich. Auch das Verbot im Rahmenabkommen, sich im Streitfall an die Welthandelsorganisation zu wenden, wurde jetzt fallengelassen – der EuGH ist nun allzuständig, auch rückwirkend. Es gibt in keinem internationalen Vertrag solche Klauseln, die ein souveränes Land satellisieren.

Einige Abschwächungen wurden der Schweiz dargereicht: Bisherige Ausnahmeregelungen in den verschiedenen Abkommen (und nur sie) werden nicht dynamisiert. Weitere Ausnahmen können allenfalls auch ausgehandelt werden, was in internationalen Verträgen das Normalste der Welt ist.

Erleichtert wurde auch kommentiert, dass nun zwar eine Paketverhandlung stattfindet, jedoch nicht gleich alle Abkommen wegfallen, wenn eine Partei in einem Punkt bockt. Doch auch dies wird annulliert durch die drei Worte, dass eine sich verletzt fühlende Partei Sanktionen «in any other» Abkommen verfügen darf.

Es hängen also doch alle zusammen. So könnte Frankreich bei Missstimmigkeit im Agrarbereich, den es mit Zähnen und Klauen verteidigt, Schikanen gegen Elektro- oder Medizinalgeräte verfügen. Überhaupt liegen Agrarfragen drohend über weiten Teilen schweizerischer Interessen, wenn die dynamische Anpassung künftig über die «ganze Nahrungskette» obligatorisch wird, also vom Saatkorn bis zur Nestlé-Packung. Immer natürlich zugunsten der Sicherheit – des Nährbodens aller Regulierungen dieser Welt.
Viele Unschärfen

Neben den hohen Hürden finden sich im Entwurf auch diverse Unschärfen. Die Schweizer Vertreter sollen etwa in frühem Stadium bei EU-Regulierungsvorhaben einwirken können – aber wo, wie und wann genau, bleibt offen – auch wie weit das schweizerische Gesetzgebungsverfahren inklusive Referendum gelten soll. Wenn bei Widerstand immer nur der EuGH oder die obligatorische Dynamik zählt, gilt dies nicht viel.

Unscharf wird auch der ganze Freizügigkeits- und Arbeitnehmerbereich vorgeführt. Nicht weil dort wenig drinstehen würde, sondern umgekehrt allzu viel. Wie dieser ganze Wust an Regeln für entsendete Arbeiter, Sozialhilfebezüger und Zuwanderer sich letztlich auswirken wird – bei einem obligaten dynamischen Vollzug plus Ausnahmen und Ausnahmen von den Ausnahmen –, werden Juristen und zum Schluss der EuGH festlegen müssen.

Eine «dynamische Wirkung» auf die Zuwanderung von EU-Bürgern wird jedenfalls die künftige Erweiterung haben. Der ganze Balkan steht für einen EU-Beitritt Schlange und nun auch noch die Ukraine. Der historisch aufmerksame Betrachter erinnert sich an den Cordon sanitaire, der 1918 mit unabhängigen Staaten eigens zwischen Deutschland und Russland eingerichtet wurde – und jetzt will die EU mit der Ukraine eine etwa 1200 Kilometer lange neue, direkte Grenze zu Russland vorbereiten.

Eine erstaunliche Asymmetrie entdeckt man ferner im Kapitel zu den unerwünschten Staatsbeihilfen. Die EU bekrittelt seit Jahren die Stellung der Kantonalbanken, selber aber unterhält sie die dicksten Staatsbeihilfen der Welt: So pumpt sie 250 Milliarden Euro als «Digitalisierungsbooster» in ihre Firmen, sie fördert die Wasserstoffwirtschaft mit Dutzenden Milliarden, die Mitgliedstaaten stützen fossile Brennstoffe mit 123 Milliarden im Jahr (2023, gemäss Bericht der EU-Kommission). Der Ruf nach Net Zero tönt da etwas vorschnell. Das Kapitel zu den Staatsbeihilfen kann getrost eliminiert oder aber nach Strich und Faden auf die EU selber angewendet werden.

Weiterlesen bei Nzz.ch

Beat Kappeler ist Ökonom und Buchautor. Zuletzt ist erschienen: «Wenn alles reisst, hält die Schweiz? Krieg, Euro, Migration, Schulden, Inflation, Aufruhr, Geopolitik», Stämpfli (2023).

Siehe auch:

«Es erfüllt Einsteins Definition vom Wahnsinn»

Lukas Haessig (22.12.2023)

Beat Kappeler: «Mindestlöhne sind gegen die Betroffenen»

Schlagwörter:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert